Lange Zeit bestanden Zweifel über die Korrektheit bzw. Vollständigkeit der QM, welche vor allem durch Albert Einstein vorgebracht wurden. Einstein selbst sagte die Theorie der Quantenmechanik nicht zu, er versuchte diese mithilfe des berühmten Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon (EPR)1 zu widerlegen. Er postulierte, dass es eine objektive Realität geben müsse, unabhängig davon, ob diese gemessen wird oder nicht. Aus seiner Perspektive sei jedes Teilchen determiniert, d.h. sein Zustand stünde bereits vor der Messung fest, dieser werde im Messprozess lediglich “abgelesen”. Ein Teilchen dessen spezifische Eigenschaften gemessen werden (etwa die Richtung seines Spins), müsse bereits vor der Messung diese Eigenschaft aufgewiesen haben. Diese vorab bestehenden Eigenschaften („Hidden-Variables“) seien uns lediglich unbekannt – ein Fall von fehlender Information. Die von ihm vorgebrachten Argumente wurden in den letzten Jahrzehnten jedoch Stück für Stück entkräftet, erstmalig durch die theoretischen Überlegungen von Bell - die Bellsche Ungleichung2 (J. S. Bell, 1964; Einstein et al., 1935).

Im Volksmund existiert ein Zitat, welches unbestätigter Weise Einstein zugeschrieben wird und das „Problem“ verdeutlicht. Es ist ein naiver Unglaube in den Indeterminismus der Quantenmechanik, der dualistischen Superposition: “Do you really believe the moon only exists when you look at it?“.

Dieses „Argument“ simplifiziert das Konstrukt der Quantenmechanik sehr stark und kann mit einigen Überlegungen entkräftet werden, wie Sie auch John Bell äußerte. Natürlich hört der Mond nicht auf zu existieren, nur weil ihn ein einzelnes Individuum nicht beobachtet. Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, was das Wort “Messung” bzw. “Beobachtung” eigentlich bedeutet. Um Bell in seinen eigenen Worten zu zitieren:

What exactly qualifies some physical systems to play the role of ‘measurer’? Was the wavefunction of the world waiting to jump for thousands of millions of years until a single-celled living creature appeared? Or did it have to wait a little longer, for some better qualified system … with a PhD? If the theory is to apply to anything but highly idealised laboratory operations, are we not obliged to admit that more or less ‘measurement-like’ processes are going on more or less all the time, more or less everywhere? 
– John Bell, 19903

Bells Argumentation folgend, sollte der Mond existieren, sobald dieser “gemessen” wird, was in diesem Fall bedeutet, dass er in irgendeiner Weise mit einem anderen (physikalischen) System interagiert. Seine Existenz wäre allein dadurch begründet, dass der Mond Auswirkungen auf das Gezeitensystem der Erde hat und somit sowohl direkten als auch indirekten Einfluss auf unzählige Prozesse von Flora und Fauna nimmt.

Als Messung qualifiziert sich nicht nur eine visuelle Beobachtung (Interpretation von Photonen auf der Retina) durch ein menschliches Individuum. Stattdessen könnte jede Art der Interaktion zwischen zwei physikalischen Systemen als hinreichend angesehen werden, um eine Wellenfunktion zu kollabieren und “Realität” zu erzeugen. Dies gilt für unbelebte Objekte gleichermaßen, wie für praktisch jede Art von Lebewesen, welches Reize (Schwingungen/Wellen) wahrnehmen, registrieren bzw. gar interpretieren kann. Inwieweit es sich dabei um eine “objektive Realität” handelt, d.h. mit der Realität anderer Individuen übereinstimmt, darüber streiten sich die Experten. Das Gedanken-Experiment von Eugene Wigner (Wigner’s Freund) greift genau diese Frage auf, wie eine Realität aussehen könne, in der sich die objektiven Realitäten zweier Individuen unterscheiden. Dabei widersprechen sich die neusten Studien und kommen jeweils zu unterschiedlichen Konklusionen, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass diese auf Grundlage unterschiedlicher Grundannahmen der QM argumentieren (Allard Guérin et al., 2021;4 Bong et al., 2020;5 Wigner, 19636).

Denn die Physiker sind sich heutzutage zwar darüber einig, dass unsere Welt auf Quanten aufgebaut ist (Quantum fundamentalism), jedoch besteht Uneinigkeit darüber, was dies schlussendlich für unsere Welt (und unseren Realitätsbegriff) bedeutet. (Smolin, 2019;7 Zinkernagel, 2016a8)

Footnotes

  1. Einstein, A., Podolsky, B., & Rosen, N. (1935). Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality Be Considered Complete? Phys. Rev.47(10), 777–780. https://doi.org/10.1103/PhysRev.47.777

  2. Bell, J. S. (1964). On the einstein podolsky rosen paradox. Physics Physique Fizika1(3), 195.

  3. Bell, J. (1990). Against ‘measurement’. Physics world3(8), 34.

  4. Allard Guérin, P., Baumann, V., Del Santo, F., & Brukner, Č. (2021). A no-go theorem for the persistent reality of Wigner’s friend’s perception. Communications Physics4(1), 93. https://doi.org/10.1038/s42005-021-00589-1

  5. Bong, K.-W., Utreras-Alarcón, A., Ghafari, F., Liang, Y.-C., Tischler, N., Cavalcanti, E. G., Pryde, G. J., & Wiseman, H. M. (2020). A strong no-go theorem on the Wigner’s friend paradox. Nature Physics16(12), 1199–1205. https://doi.org/10.1038/s41567-020-0990-x

  6. Wigner, E. P. (1963). The problem of measurement. American Journal of Physics31(1), 6–15.

  7. Smolin, L. (2019). Einstein’s unfinished revolution: The search for what lies beyond the quantum. Penguin.

  8. Zinkernagel, H. (2016a). Are we living in a quantum world? Bohr and quantum fundamentalism. arXiv preprint arXiv:1603.00342.